ADHS-Einblicke
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Über ADHS diskutieren, ohne zu stigmatisieren
ADHS ist zwar den meisten Menschen in Deutschland ein Begriff, doch an
solidem Wissen über die Erkrankung mangelt es häufig. Betroffene Familien
und Ärzte beklagen, dass seit Jahren große Unkenntnis besteht und
Fehlinformationen verbreitet werden. Diese Unwissenheit geht zu Lasten der
betroffenen Kinder.
In der Broschüre Einblicke haben wir weit verbreiteten
Vorurteilen Fakten entgegengestellt. Alle Inhalte der Broschüre können hier
nachgelesen werden. Wer sich für ein gedrucktes Exemplar der Broschüre
interessiert, kann dies über den Pressekontakt
kostenfrei anfordern.
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ADHS – eine erfundene Krankheit?
ADHS ist eine psychische Störung, die die betroffenen Kinder in ihrer
Entwicklung beeinträchtigt
„Wie auch bei anderen psychischen Störungen gibt es keinen
objektiven Test, um ADHS festzustellen. Dennoch können Experten ADHS
mit Hilfe verschiedener Untersuchungen und systematischer
Beobachtungen zuverlässig diagnostizieren.“
Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann
Immer wieder wird angezweifelt, dass die ADHS tatsächlich eine
Erkrankung bzw. ein gesundheitliches Problem ist. Vielmehr wird
unterstellt, die Störung sei von Ärzten oder der Pharmaindustrie
„erfunden“ worden. Ein Argument lautet: Unkonzentriert und impulsiv
sind wir doch alle einmal, und Kinder können nicht die ganze Zeit
brav sein, sondern müssen sich austoben. Beides ist vollkommen
richtig.
Wie alle psychischen Störungen ist ADHS durch ein Muster
verschiedener Einzelsymptome definiert. Die Kernsymptome der ADHS –
Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität – können auch bei
Kindern (und Erwachsenen) beobachtet werden, die keine ADHS haben.
Entscheidend ist, dass die Symptome in Kombination über einen
längeren Zeitraum vorhanden sind, in verschiedenen Lebensbereichen
(z. B. in Schule und Familie) mit deutlicher Intensität auftreten
und den Betroffenen ernsthafte Probleme bereiten. (1, 2)
Wenn also die Symptome keine schwerwiegenden Beeinträchtigungen in
den sozialen Beziehungen und im Leistungsbereich (Schule, Beruf)
verursachen, kann auch keine ADHS diagnostiziert und behandelt
werden. Das heißt: Kinder, die fachgerecht diagnostiziert wurden,
sind nicht nur ein wenig lebhafter als andere oder durchleben gerade
eine schwierige Phase, sondern sie haben durch ihr Verhalten, das
sie selbst nicht steuern können, ernsthafte Probleme und brauchen
qualifizierte Hilfe.
ADHS-Symptome wurden schon vor langer Zeit beschrieben – unter
anderem von Hippokrates ca. 500 v. Chr. und von dem Frankfurter Arzt
Heinrich Hoffmann 1845 in seinem Kinderbuch „Der Struwwelpeter“. Im
Laufe der Jahre gab es verschiedene Bezeichnungen, die beobachteten
Symptome blieben jedoch die gleichen.
In den vergangenen Jahrzehnten gelang es der Hirnforschung zudem,
Besonderheiten in der Hirnentwicklung von Menschen mit einer ADHS-
Symptomatik mit Hilfe von bildgebenden Verfahren sichtbar zu machen.
In der internationalen wissenschaftlichen Forschung besteht kein
Zweifel daran, dass ADHS als neurobiologische Störung existiert.
Entsprechend ist ADHS seit Jahrzehnten eine von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte Diagnose.
Quellen
1)
Leitlinie „Hyperkinetische Störung“ der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2007.
2)
Leitlinie „ADHS bei Kindern und Jugendlichen“ der AG ADHS,
2007/2014.
ADHS – Ausdruck einer kranken Gesellschaft?
ADHS hat verschiedene Ursachen
„Behandeln wir bei Kindern mit ADHS ein gesellschaftliches
Phänomen? Nein, wir behandeln bei ADHS eine neurobiologische Störung
unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse.“
Prof. Dr. Esther Sobanski
Immer wieder werden die ADHS-Kernsymptome Hyperaktivität,
Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung als typische Merkmale
unserer heutigen Informations- gesellschaft bezeichnet.
Multitasking, kurze Aufmerksamkeitsspannen, Dauererregung als
Grundzustand, Stress und Überforderung – hat unsere gesamte
Gesellschaft ADHS? Ist ADHS eine „Kulturstörung“?
Die Ursachen der ADHS und ihre Zusammenhänge sind noch nicht
endgültig geklärt, es liegen jedoch bereits viele Erkenntnisse vor.
Als wissenschaftlich gesichert gilt das Zusammenwirken von
genetischen und neurobiologischen Faktoren. Studien zeigen, dass
eine Veranlagung für ADHS in hohem Maße vererbt wird (1, 2). Der
Hirnstoffwechsel von Menschen mit ADHS ist verändert, mit
Auswirkungen auf die Impulskontrolle, das Arbeitsgedächtnis und die
Motivation, und das Gehirn entwickelt sich anders als bei Menschen
ohne ADHS.
Umweltfaktoren verursachen nach heutigem Kenntnisstand keine ADHS,
sie beeinflussen jedoch deren Ausprägung und Verlauf. Unter
ungünstigen psychosozialen Bedingungen – etwa bei Vernachlässigung,
konfliktreichen Eltern-Kind-Beziehungen, starkem Medienkonsum, zu
wenig körperlicher Bewegung und Überforderung – können ADHS-Symptome
stärker hervortreten. Eine förderliche Umgebung in Familie, Schule
und Freizeit hilft, ADHS- spezifische Probleme zu reduzieren.
Dennoch bleibt auch in einer optimal angepassten Umgebung die ADHS
als besondere Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung mit
ihren besonderen Herausforderungen für die Betroffenen und ihr
Umfeld bestehen.
Quellen
1)
Schmid G. Ätiologie, in: Kahl KG et al (Hg.): Praxishandbuch ADHS.
2007, 7–10.
2)
Banaschewski T et al. Kindheit und Entwicklung; Juli 2004,13 (3),
137–147.
Generation ADHS?
Ein Anstieg der Betroffenenzahlen bedeutet nicht automatisch zu viele
Diagnosen
„Mit Blick auf die vorhandenen Daten kann nicht von einer
Überdiagnose der ADHS gesprochen werden, schon eher von einer
Unterdiagnose in bestimmten Gegenden Deutschlands. Leider verraten
die Zahlen nicht, ob die Diagnosen immer korrekt gestellt werden.
Deshalb sollten die Krankenkassen mehr für eine qualitätsgesicherte
Diagnostik und Behandlung tun.“
Dr. Kirsten Stollhoff
In den Medien ist häufig von ADHS als Modediagnose die Rede. 2013
beschwor die Krankenkasse Barmer GEK gar eine „Generation ADHS“
herauf – aus ihren Versichertendaten hatte sie für Kinder und
Jugendliche einen Anstieg der Diagnosezahlen um 42 Prozent innerhalb
von fünf Jahren ermittelt. (1) Wie lässt sich das erklären?
Experten sehen für steigende Diagnosezahlen verschiedene Gründe. Ein
wichtiger Faktor dürfte die zunehmende Bekanntheit der Störung sein.
Rückt ein wenig bekanntes Krankheitsbild in die Wahrnehmung der
Ärzte und der Öffentlichkeit, so steigen in der Regel die
Diagnosezahlen. Verdachtsfälle werden häufiger bei Ärzten
vorgestellt und untersucht. Betroffene, die zuvor nicht erkannt
wurden oder deren Symptome falsch gedeutet wurden, erhalten nun eine
Diagnose. Zuwachsraten können also zum Teil als ein Nachholen von
Diagnosen interpretiert werden.
Der von der Barmer GEK skandalisierte Anstieg der Diagnosen ging
durch alle Medien. Kaum wahrgenommen wurde hingegen, dass die
Gesamtzahl der Diagnosen in der Barmer-Auswertung auch nach dem
Anstieg von 2,92 % auf 4,14 % (1) nicht überdurchschnittlich war.
Die repräsentative KIGGS-Studie (2) kommt zu dem Ergebnis, dass der
Anteil der ADHS-Diagnosen für Jungen und Mädchen zusammengenommen
zwischen 2003 und 2012 unverändert bei rund 5 % liegt. Auch für
andere psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen fand die
KIGGS-Studie konstante Werte.
Vergleicht man die ADHS-Diagnosezahlen aus Deutschland mit denen
anderer Länder, so zeigt sich, dass Deutschland keine Sonderposition
einnimmt. Von einem inflationären Anstieg der Diagnosen kann also
nicht die Rede sein.
Quellen
1)
Grobe TG et al., BARMER GEK Arztreport 2013.
2)
Schlack et al., Bundesgesundheitsblatt 2014 (57), 820–829.
Bekommen zu viele ADHS-Patienten Medikamente?
Weniger als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit einer
ADHS-Diagnose erhält Medikamente
„In vielen Fällen sind Medikamente als Teil einer kombinierten
ADHS-Behandlung sehr wirksam. Manche Kinder können erst durch
Medikamente von anderen Therapiebausteinen profitieren. Ärzte, die
auf ADHS spezialisiert sind, überprüfen regelmäßig, ob ihre
Patienten die Medikamente noch benötigen.“
Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann
Ein beliebter Zahlenvergleich im Zusammenhang mit ADHS ist
folgender: 1993 wurden in Deutschland 34 kg des am häufigsten zur
Behandlung der ADHS eingesetzten Wirkstoffs Methylphenidat
verschrieben, im Jahr 2010 fast 1,8 Tonnen. (1) Die Diskrepanz der
Zahlen beeindruckt. Leider werden sie oft nicht in den Kontext
gesetzt.
Im Jahr 1993 war ADHS deutschlandweit kaum bekannt und wurde nur von
wenigen Spezialisten diagnostiziert und behandelt. Im Lauf der
folgenden 17 Jahre hat sich glücklicherweise einiges zum Wohl der
Betroffenen verändert: ADHS wurde bekannt, die Diagnosezahlen sind
auf einen europäischen Durchschnittswert angestiegen und betroffene
Kinder, Jugendliche und Erwachsene erhalten nun therapeutische
Hilfe, die vor 20 Jahren unerreichbar war.
Nach Angaben der Krankenkasse Barmer GEK erhielten 2011 weniger als
50 % der dort versicherten Kinder und Jugendlichen mit ADHS
Medikamente. (2) Seit 2009 ist zudem ein Rückgang der Verordnungen
zu verzeichnen. (3) Einer Analyse der AOK zufolge erhielten 2012
lediglich 34 % der dort versicherten Grundschulkinder mit einer
ADHS-Diagnose Medikamente. (4) Aus Sicht ärztlicher Experten sind
diese Zahlen nicht alarmierend.
Da jede ADHS individuell ist, sollten auch die Maßnahmen zur
Behandlung individuell ausgewählt und kombiniert werden. Nicht alle
Betroffenen benötigen Medikamente. Bereits die Aufklärung und
Beratung der Eltern sowie eine gezielte Unterstützung in der Schule
können sehr hilfreich sein. Einige Kinder und Jugendliche
profitieren von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. Sind die
Betroffenen durch ihre ADHS jedoch stark beeinträchtigt, so
empfehlen die ärztlichen Leitlinien (5,6), frühzeitig Medikamente
einzusetzen.
Quellen
1)
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte:
Pressemitteilung Nr. 7/15 (27.04.2015) und Infografik.
2)
Grobe TG et al. BARMER GEK Arztreport 2013, Infografik 6.
3)
Grobe TG et al. BARMER GEK Arztreport 2013, 200.
4)
AOK. G + G Gesundheit und Gesellschaft 2014 (10), 23–29.
5)
Leitlinie „Hyperkinetische Störung“ der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2007.
6)
Leitlinie „ADHS bei Kindern und Jugendlichen“ der AG ADHS,
2007/2014.
Werden Betroffene mit ADHS-Medikamenten „ruhiggestellt“?
ADHS-Medikamente können Betroffenen eine normale
und konzentrierte Wahrnehmung ermöglichen
„Eine kritische Haltung gegenüber Medikamenten für Kinder und
Jugendliche ist richtig und wichtig. Problematisch wird es aber,
wenn Eltern eine hilfreiche Therapie ablehnen, weil sie durch
falsche oder verzerrende Informationen abgeschreckt wurden.“
Dr. Kirsten Stollhoff
Verständlicherweise reagieren viele Menschen beim Thema „Medikamente
fürs Gehirn“ sensibel – erst recht, wenn die Patienten Kinder und
Jugendliche sind. Häufig besteht die Befürchtung, ADHS-Medikamente
könnten die Persönlichkeit verändern. In den Medien ist oft von
„Ruhigstellen“ die Rede.
ADHS-Medikamente sind jedoch keine Beruhigungsmittel, und sie
verändern auch nicht die Persönlichkeit. Im Gegenteil: Die
Betroffenen sind im Alltag so beeinträchtigt, dass sie ihre
Fähigkeiten und Begabungen nicht richtig nutzen können. Sie haben
aufgrund ihrer Wahrnehmung und ihres Verhaltens in vielen Bereichen
Probleme. Medikamente können ihnen dabei helfen, ihr Potenzial zu
entfalten, indem sie eine konzentriertere Wahrnehmung ermöglichen
und die Impulsivität reduzieren.
Manchmal kommt es vor, dass sich Kinder und Jugendliche mit ADHS
unter der Wirkung eines ADHS-Medikaments als weniger lustig und
spontan erleben. Dies kann mit der reduzierten Impulsivität
zusammenhängen und insbesondere zu Beginn der Behandlung als negativ
wahrgenommen werden.
Wenn sich Kinder als „ferngesteuert“ oder „innerlich leer“
beschreiben, so sind dies keine üblichen und akzeptablen
Nebenwirkungen von ADHS- Medikamenten, sondern Anzeichen dafür,
dass ein Medikament überdosiert oder für dieses Kind ungeeignet ist.
Der behandelnde Arzt wird dann die Dosierung anpassen, ein anderes
Medikament wählen oder möglicherweise ganz auf Medikamente
verzichten.
Jede ADHS ist individuell und jeder Betroffene reagiert individuell
auf ADHS- Medikamente. Das kann in manchen Fällen auch bedeuten,
dass keines der verfügbaren Medikamente vertragen wird.
Gefährliche Nebenwirkungen?
Nebenwirkungen von ADHS-Medikamenten lassen sich in der Regel gut
kontrollieren
„Auch wenn es manchmal so dargestellt wird: Extreme Nebenwirkungen
sind nicht
typisch für ADHS-Medikamente. Außerdem gibt es bewährte
Strategien, mit denen
man die meisten Nebenwirkungen in den Griff bekommen kann, so dass
die Betroffenen
von einer medikamentösen Behandlung profitieren können.“
Prof. Dr. Esther Sobanski
In den Medien wird immer wieder auf Nebenwirkungen von ADHS-
Medikamenten hingewiesen. Oft genannt werden Kopf- und
Bauchschmerzen, Wachstumsstörungen, Gewichtsverlust und
Herz-Kreislauf-Probleme. Dabei wird nicht selten der Eindruck
erweckt, es sei riskant oder gar unverantwortlich, ADHS-Medikamente
zu nehmen. Dies entspricht jedoch nicht den Tatsachen.
Grundsätzlich gilt: Medikamente, die wirken, haben in der Regel
neben der erwünschten auch unerwünschte Wirkungen. Eine Behandlung
mit Medikamenten ist nur sinnvoll, wenn die Nebenwirkungen
unproblematisch sind oder in Kauf genommen werden können und wollen,
weil die positive Wirkung überwiegt.
Treten Nebenwirkungen auf, so ist es die Aufgabe des behandelnden
Arztes, sie einzuschätzen und gemeinsam mit dem Patienten und dessen
Eltern über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Manche
Nebenwirkungen treten typischerweise zu Beginn einer Behandlung auf
und verschwinden nach kurzer Zeit oder, wenn die Dosierung angepasst
wurde.
Andere Nebenwirkungen, wie etwa Appetitmangel oder
Einschlafprobleme, kann man oft durch entsprechende Maßnahmen im
Verhalten (z. B. essen nach Plan bzw. abendliche Rituale) in den
Griff bekommen. Wachstums- verzögerungen können auftreten, werden
aber in der Regel langfristig wieder aufgeholt. (1) Da manche
ADHS-Medikamente den Blutdruck erhöhen, sind sie für Patienten mit
einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf- Erkrankungen nicht
geeignet. Dies zu berücksichtigen, zählt zu den Aufgaben des
behandelnden Arztes. Überwiegen die Risiken oder Nebenwirkungen den
Nutzen, so wird kein verantwortungsbewusster Arzt den Einsatz eines
Medikaments empfehlen.
Grundsätzlich sollte man auch wissen, dass in manchen Fällen
bestimmte Nebenwirkungen nur bei Patienten mit besonderen Vor- oder
Begleiterkrankungen vorkommen können. Auftretende Nebenwirkungen
müssen bei jedem Medikament ernst genommen werden. Mit eventuell
möglichen Nebenwirkungen Ängste zu schüren, ist jedoch
kontraproduktiv.
Quellen
1)
Stollhoff K. pädiatrie hautnah 2011; 23 (2): 66-67.
Ein besserer Mensch Dank Medikamenten?
ADHS-Medikamente sind keine Problemlöser. Doch sie ermöglichen den
Betroffenen, ihr Verhalten selbst zu bestimmen
„Es ist so als würdest du Auto fahren und es gibt zwei
verschiedene Wege und du nimmst normalerweise immer den einen …
Eines Tages möchtest du den anderen nehmen, aber die ADHS ist wie
eine Sperre, also kannst du das nicht … Die Medikamente öffnen die
Sperre, so dass du den richtigen Weg nehmen kannst. Aber du hast
immer noch die Wahl, den falschen Weg zu nehmen … Es ist nicht so,
als ob du mit Medikamenten ein Roboter wärst.“
Glenn, 10 Jahre (1)
Manchmal wird behauptet, mit Medikamenten werde es den betroffenen
Kindern „zu leicht“ gemacht. Der Vorwurf: Sie müssen nicht an ihrem
Verhalten arbeiten, sondern erhalten eine „Pille“, die ihre Probleme
löst. So lernen sie, zu „einfachen“ Lösungen zu greifen, anstatt
sich anzustrengen. Sie können kein Selbstvertrauen aufbauen, da sie
erleben, dass sie ohne Medikamente nichts leisten können und nicht
geschätzt werden. Was ist hiervon zu halten?
ADHS-Medikamente erhöhen weder die Intelligenz noch verändern sie
die Persönlichkeit. Sie wirken sich lediglich positiv auf die
Aufmerksamkeits- probleme, die Hyperaktivität und die
Impulsivität aus. Den Betroffenen ist es dadurch möglich, ihre
Umgebung so wahrzunehmen und ihr Verhalten so zu kontrollieren, wie
Nicht-Betroffene dies können. Was sie aus den so gewonnenen
Möglichkeiten machen, ob sie ihre Fähigkeiten und Begabungen nutzen,
bleibt ihnen überlassen. Oder anders gesagt: ADHS- Medikamente
lernen keine Vokabeln und schreiben keine Klassenarbeiten. Das
müssen die Kinder selbst tun.
Immer wieder wird kritisiert, dass ADHS-Medikamente „nur“ die
Symptome beeinflussen, die Störung selbst aber nicht heilen können.
Dies gilt jedoch auch für viele andere und weithin akzeptierte
Medikamente, zum Beispiel zur Behandlung von Diabetes,
Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schmerzen. Ärzte und Betroffene
vergleichen ADHS-Medikamente oft mit einer Brille, die Menschen mit
eingeschränktem Sehvermögen eine normale, scharfe Sicht ermöglicht.
Dass betroffene Kinder dies auch so wahrnehmen, konnte eine Studie
zeigen, in der Kinder zu ihrer ADHS und zu Medikamenten befragt
wurden. (1)
Kinder mit ADHS wünschen sich meist Normalität – Freunde haben, zum
Kindergeburtstag eingeladen werden, so sein wie die anderen. Die
Behandlung der ADHS zielt nicht darauf ab, die Individualität, das
Temperament oder den Charakter der Betroffenen zu verändern. Ziel
ist es, die Betroffenen dabei zu unterstützen, ihre Fähigkeiten und
Begabungen so zu nutzen, wie sie es sich wünschen.
Quellen
1)
Singh I, VOICES Study, Final Report, 2012.
Geht es nicht auch ohne Medikamente?
ADHS ist immer individuell ausgeprägt. Entsprechend sollte eine
Behandlung immer auf den einzelnen Patienten zugeschnitten sein
„ADHS kann nicht geheilt, wohl aber wirksam behandelt werden. Ziel
der Behandlung ist es, die Symptome zu lindern und die
Beeinträchtigungen im Alltag zu verringern, so dass ein weitgehend
normales Leben möglich ist.“
Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann
Manche Betroffene kommen mit ihren ADHS-Symptomen im Alltag gut
zurecht, andere hingegen sind stark beeinträchtigt. Experten sind
sich darüber einig, dass eine ADHS immer mit individuell
zugeschnittenen Therapiebausteinen behandelt werden sollte
(multimodale Therapie).
Unverzichtbar ist dabei die sogenannte Psychoedukation: Die
Betroffenen und ihr Umfeld – Eltern, Erzieher, Lehrer etc. – werden
über die Störung informiert und erfahren, wie sie konstruktiv mit
ihr umgehen können.
Weitere bewährte Bausteine sind Elterntrainings, ggf. eine
Familientherapie, Hilfestellungen in der Schule (z. B. spezielle
Unterrichtsmethoden, Schulbegleiter), Verhaltenstherapie und
Medikamente. Manche Betroffene kommen ohne Medikamente aus, andere
wiederum können erst mit Hilfe von Medikamenten von den anderen
Behandlungsbausteinen profitieren.
Sowohl die Behandlung mit Medikamenten als auch die
Verhaltenstherapie haben ihre Wirksamkeit in zahlreichen
wissenschaftlichen Studien unter Beweis gestellt. Zudem gibt es
zunehmend Hinweise auf die Wirksamkeit von Elterntrainings,
kognitiven Trainings, Neurofeedback-Training und einigen
diätetischen Ansätzen (z. B. Vermeidung von allergenen Stoffen,
Einnahme von Omega-3-Fettsäuren).
Ergotherapie sollte nur zum Einsatz kommen, wenn tatsächlich
Störungen der Bewegung und der Koordination vorhanden sind. Zur
Behandlung der ADHS- Kernsymptome Aufmerksamkeitsstörung,
Hyperaktivität und Impulsivität ist Ergotherapie hingegen nicht
geeignet.
Sehr hilfreich für den Alltag ist der Austausch in einer
Selbsthilfegruppe. Betroffene finden dort erfahrene
Gesprächspartner, Verständnis und Kontakte. Sie erfahren, dass sie
nicht alleine sind, erhalten viele praktische Tipps und können so
auch die positiven Seiten des Lebens mit ADHS entdecken.
Übertherapie oder Unterversorgung?
Die unzulängliche Versorgungssituation hat sich seit Jahren kaum
verbessert
„Der Preis, den die Betroffenen und die Gesellschaft für eine
unzureichende Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
mit ADHS zahlen, ist um ein Vielfaches höher, als die Kosten einer
guten, flächendeckenden Versorgung.“
Dr. Myriam Bea
Für die Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen sind
Kinder- und Jugendpsychiater sowie auf ADHS spezialisierte Kinder-
und Jugendärzte zuständig. Von beiden gibt es in Deutschland zu
wenige, in manchen Gegenden gar keine. Aufgrund einer unzureichenden
Vergütung der zeitaufwändigen Diagnostik und Therapie finden ältere
Kinder- und Jugendärzte zudem oft keine Nachfolger für ihre
ADHS-Schwerpunktpraxis.
Bestimmte Behandlungsbausteine, die im Rahmen einer individuellen
multimodalen Therapie erfolgreich eingesetzt werden können, wie z.
B. Verhaltenstherapie oder Neurofeedback-Training, sind nicht
überall verfügbar oder erfordern lange Wartezeiten oder
Anfahrtswege.
Krankenkassen beklagen gerne medienwirksam die Verschreibung von
ADHS-Medikamenten. Zugleich sind sie aber nicht bereit, in
ausreichendem Maß in Versorgungsqualität zu investieren. Ein positiv
evaluierter Mustervertrag für eine qualitätsgesicherte Versorgung
von Kindern und Jugendlichen mit ADHS (KBV-Vertrag) wurde bisher nur
in wenigen Regionen von wenigen Krankenkassen übernommen. Eine
angemessene ambulante Versorgung von Erwachsenen in den Praxen
niedergelassener Psychiater scheitert ebenfalls oft an der
unzureichenden Honorierung.
Bisher wurde in Deutschland noch keine Studie zur
Versorgungsrealität bei ADHS durchgeführt – mit dem Ergebnis, dass
möglicherweise sinnvolle Therapien nicht ausreichend evaluiert
wurden und von den Krankenkassen nicht finanziert werden. Zugleich
wird die Popularität von Heilverfahren und
pädagogisch-therapeutischen Konzepten begünstigt, für die bisher
keine Wirkung nachgewiesen werden konnte. Um die
Versorgungssituation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit
ADHS in Deutschland zu verbessern, sind politische Initiativen
gefragt. Ihr Ziel muss es sein, Stillstand
und Blockaden in der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens zu
überwinden, die Kooperationen verschiedener therapeutischer
Berufsgruppen zu fördern und medizinische, pädagogische und soziale
Maßnahmen über unterschiedliche Institutionen (Erziehungs- und
Familienberatung, Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstätten) hinweg
zu koordinieren
ADHS durch Leistungsdruck?
Lehrer können viel für Schüler mit ADHS tun, wenn
sie über Wissen, Zeit und Unterstützung verfügen
„Kinder mit ADHS können in der Regelschule unterrichtet werden.
Die Bildungspolitik
muss für die Voraussetzungen sorgen: kompetente Lehrer,
zusätzliche
Pädagogen und Therapeuten und kleinere Klassen. Wenn die Schulzeit
zu einer
Katastrophe wird und die Kinder am Ende ohne Selbstvertrauen und
Schulabschluss
dastehen, wird auch das weitere Leben sehr schwierig werden.“
Simone Fleischmann
„Früher gab’s kein ADHS, sondern den Klassenkasper. Und der wurde
einfach regelmäßig für sein Verhalten bestraft.“ Solche Aussagen
liest und hört man immer wieder. Doch warum der Klassenkasper
andauernd kasperte, wie er sich wirklich fühlte und was das für sein
späteres Leben bedeutete, interessiert meist niemanden.
In der Tat haben sich Anforderungen und Lehrmethoden in der Schule
gewandelt. Mehr abstrakter Lernstoff und offene Unterrichtsmethoden
fordern
eine verstärkte Konzentrationsfähigkeit und Selbstorganisation –
gerade das fällt Kindern und Jugendlichen mit ADHS aber schwer.
Lehrer können durch eine individuelle Betreuung helfen, diese
Schwierigkeiten auszugleichen. Hierfür müssen sie über ADHS Bescheid
wissen und geeignete Unterrichtsmethoden kennen und anwenden.
Doch das reicht noch nicht aus. Schüler mit ADHS individuell zu
unterstützen ist Teamarbeit. Lehrkräfte, Eltern und die Kinder
müssen eng zusammen-arbeiten. Darüber hinaus sollten weitere
Fachkräfte wie Heil- und Sonder- pädagogen, Psychologen und
Sozialarbeiter Teil des Betreuungsteams sein.
Deutschlandweit gibt es viele Beispiele für eine gelungene
Integration von Schülern mit ADHS in normale Klassen. Doch meist
sind dies einzelne Initiativen von engagierten Lehrern und
Schulleitungen. Bisher gibt es noch in keinem Bundesland ein
schlüssiges Gesamtkonzept für alle Schultypen einschließlich der
erforderlichen Ressourcen.
In einer Wissensgesellschaft mit sinkenden Geburtenraten und
Fachkräfte- mangel muss alles dafür getan werden, Kinder und
Jugendliche mit Lern- schwierigkeiten umfassend zu fördern.
Gegenwärtig geraten Lehrer, Eltern und Schüler bei dem Versuch, in
einem unzureichenden System aus eigener Kraft das Bestmögliche zu
erreichen, an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Frustration,
Überlastung und Depressionen sind die Folgen.
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