Was jeder wissen sollte
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Definition
Die drei typischen Anzeichen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind Unaufmerksamkeit,
Impulsivität und Überaktivität. Diese Merkmale können
unterschiedlich stark ausgeprägt sein:
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Einige Kinder sind vorwiegend impulsiv-hyperaktiv.
-
Andere Kinder sind vorwiegend unaufmerksam.
-
Es gibt auch Kinder, bei denen alle drei Merkmale
auftreten.
Eine ADHS liegt definitionsgemäß vor, wenn diese Merkmale das
Kind in verschiedenen Lebensbereichen und Situationen, z. B. in
der Schule und in der Familie, beeinträchtigen. Die Merkmale
müssen bereits vor dem 6. Lebensjahr aufgetreten sein und ohne
Unterbrechung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten
anhalten. Um sicher zu sein, dass ein Kind oder Jugendlicher
eine ADHS aufweist, müssen andere körperliche oder
psychiatrische Erkrankungen, die ähnliche Anzeichen hervorrufen
können, ausgeschlossen werden (1).
Quelle
1) Hyperkinetische Störungen (F 90). Deutsche
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie u. a. (Hg.). Leitlinien zur Diagnostik und
Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und
Jugendalter. Deutscher Ärzte Verlag, 3. überarbeitete Auflage;
2007: 239-254 (aktuell in Überarbeitung).
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Ursachen
Die Ursachen sind nicht endgültig geklärt. Als gesichert gilt
das Zusammenwirken von genetischen und neurobiologischen
Faktoren. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass bestimmte
Umwelteinflüsse, wie z. B. Alkohol- und Nikotineinwirkungen im
Mutterleib, einen Einfluss auf die Entstehung einer ADHS haben
können. Psychosoziale Faktoren können den Ausprägungsgrad und
den Verlauf der Störung beeinflussen. Familien-, Adoptions- und
Zwillingsstudien zeigen, dass eine Veranlagung für ADHS in hohem
Maße vererbt wird (2,3).
Quellen
2) Schmid G. Ätiologie, in: Kahl KG et al
(Hg.). Praxishandbuch ADHS. Georg Thieme Verlag. Stuttgart. New
York; 2007:7-10.
3) Banaschewski T et al. Kindheit und
Entwicklung; Juli 2004,13(3):137-147.
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Fallzahlen
Weltweit sind durchschnittlich etwa 5 Prozent aller Kinder und
Jugendlichen in verschiedenen Kulturen von ADHS betroffen. Zwischen
Nordamerika, Europa, Afrika, Asien und Südamerika gibt es keine
bedeutsamen Häufigkeitsunterschiede (4,5).
Betroffene mit der Diagnose in Deutschland (gemäß
repräsentativer Schätzung) (6):
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4,8 Prozent der 3- bis 17-Jährigen
-
Jungen sind etwa viermal häufiger als Mädchen betroffen (7,9
vs. 1,8 Prozent).
-
Bei Jungen ist Hyperaktivität häufig stärker ausgeprägt.
Mädchen neigen eher zu träumerisch-abwesendem Verhalten
(ADS).
-
Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen
Status sind häufiger betroffen (6,4 Prozent) als Kinder aus
Familien mit mittlerem (5,0 Prozent) und höherem
sozioökonomischen Status (3,2 Prozent).
-
Kinder mit Migrationshintergrund erhalten seltener eine
Diagnose als Kinder ohne Migrationshintergrund (3,1 vs. 5,1
Prozent).
-
Ost-West- und Stadt-Land-Unterschiede sind nicht zu
verzeichnen.
Zusätzlich zu den diagnostizierten Fällen gibt es in Deutschland
Kinder, bei denen der Verdacht auf eine ADHS besteht (gemäß
repräsentativer Schätzung)
-
4,9 Prozent der 3- bis 17-Jährigen (6,4 Prozent der Jungen,
3,6 Prozent der Mädchen)
Quellen
4) Polanczyk G et al. Am J Psychiatry; Jun 2007;
164 (6): 942-948.
5) Goldman LS et al. JAMA; 1998 Apr 8; 279
(14):1100-1107.
6) Repräsentative Schätzungen des
Robert-Koch-Instituts (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt -
Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz; 2007 (50): 827-835.
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Begleiterkrankungen
50 bis 80 Prozent aller ADHS-Kinder sind von Begleiterkrankungen
betroffen. Am häufigsten sind (7):
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Motorische Entwicklungsstörungen (bis zu 50 Prozent); treten
z. B. auf als versehentliches Umstoßen von Gegenständen,
Anstoßen an Türen, schlechte Handschrift
-
Oppositionelle Verhaltensstörungen (45-55 Prozent); treten
z. B. auf als häufige und ausgeprägte Wutanfälle, geringe
Frustrationstoleranz
-
Depressive Störungen (25-30 Prozent)
-
Rechenschwäche (12-33 Prozent)
-
Lese- und Rechtschreibstörung (8-39 Prozent)
-
Tics (12-34 Prozent), z. B. Blinzeln, Schulterzucken,
Räuspern, Lautäußerungen
Quelle
7) Behn B. Komorbidität und Differenzialdiagnose,
in: Kahl KG et al (Hg.). Praxishandbuch ADHS. Georg Thieme Verlag.
Stuttgart. New York; 2007:37-44.
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Diagnostik
Für die Erkennung und Behandlung einer ADHS im Kindesalter sind
in Deutschland die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
(DGKJP) maßgeblich, die das richtige Vorgehen bei der Diagnostik
beschreiben (aktuell in Überarbeitung). Folgende Verfahren
sollen dabei zum Einsatz kommen (8):
-
Exploration (Befragung) des Umfeldes: Gespräche mit Eltern,
Lehrern und Erziehern, um ein möglichst genaues Bild der
Lebenssituation und des Verhaltens des Kindes zu erhalten
-
Direkte Verhaltensbeobachtung
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Körperliche und psychologische Untersuchungen
(Konzentrations-, Entwicklungs- und Intelligenztests)
Quelle
8) Hyperkinetische Störungen (F 90). Deutsche
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.
a. (Hg.). Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen
Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzte
Verlag, 3. überarbeitete Auflage; 2007: 239-254 (aktuell in
Überarbeitung).
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Behandlung
Die Behandlung sollte verschiedene Maßnahmen individuell
kombinieren (multimodale Therapie). Sie kann folgende Maßnahmen
umfassen (9):
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Aufklärung und Beratung (Psychoedukation) der Eltern, des
Kindes/ Jugendlichen (ab dem Schulalter), der Erzieher bzw.
des Klassenlehrers mit dem Ziel, konkrete Problemsituationen
zu verbessern (muss immer durchgeführt werden)
-
Elterntraining und Interventionen in der Familie
(einschließlich Familientherapie)
-
Interventionen im Kindergarten oder in der Schule
(Platzierung, Schulbegleiter/Integrationshelfer)
-
Verhaltenstherapeutische Maßnahmen
(Selbstinstruktionstraining)
-
Medikamentöse Therapie
-
Diätetische Behandlungen und Neurofeedback können unter
Umständen hilfreich sein
Erfolg und Angemessenheit der Behandlung müssen regelmäßig
kontrolliert werden. Bei medikamentöser Behandlung sollte der
behandelnde Arzt in Abstimmung mit dem Kind und seinen Eltern
regelmäßig Auslassversuche durchführen und dokumentieren.
Behandlung mit Medikamenten (9)
Für die Behandlung der ADHS sind in Deutschland verschiedene
Medikamente zugelassen, die sich unter anderem hinsichtlich
ihres Wirkprofils voneinander unterscheiden. Vor einer
Behandlung mit Medikamenten muss eine körperliche Untersuchung
einschließlich Blutdruck- und Pulsmessung erfolgen. Der
behandelnde Arzt muss erfragen, ob in der Familie
Herzerkrankungen oder plötzliche Todesfälle vorgekommen sind.
Ist das der Fall oder gibt es Hinweise auf ein Anfallsleiden des
Kindes (Epilepsie), so müssen weitere Untersuchungen
durchgeführt werden.
Wann ist eine Behandlung mit Medikamenten erforderlich?
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Wenn aus den ADHS-Symptomen erhebliche Probleme in der
Familie oder der Schule resultieren, sodass die weitere
Entwicklung des Kindes gefährdet ist (10).
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Wenn mit nicht-medikamentösen Maßnahmen (z. B. Gespräche,
Verhaltenstherapie) keine befriedigende Besserung der
Verhaltensauffälligkeiten erkennbar ist und eine deutliche
Beeinträchtigung im Leistungs- und psychosozialen Bereich
mit Leidensdruck bei Kindern/Jugendlichen und deren Eltern
sowie eine Gefahr für die weitere Entwicklung des Kindes
besteht (9).
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Es sollten keine Medikamente gegeben werden, wenn Probleme
allein auf den familiären Rahmen begrenzt sind (9).
Die Diagnostik und Behandlung sollten durch einen Spezialisten
für ADHS durchgeführt werden.
Quellen
9) Hyperkinetische Störungen (F 90). Deutsche
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie u. a. (Hg.). Leitlinien zur Diagnostik und
Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und
Jugendalter. Deutscher Ärzte Verlag, 3. überarbeitete Auflage;
2007: 239-254 (aktuell in Überarbeitung).
10) Döpfner M. Was wissen wir heute über
AD(H)S?, in: Schulte-Markwort M, Zinke M.
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Fortschritte in
der Diagnose und Therapie. Springer. Bad Homburg; 2005: 6-10.
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Der Übergang in das Erwachsenenalter
Bei bis zu 60 Prozent der Betroffenen besteht die ADHS auch im
Erwachsenenalter fort (11). Oft verändern sich dabei die
Symptome: Die körperliche Unruhe nimmt ab und an ihre Stelle
tritt oft eine innere Unruhe. Konzentrationsstörungen bleiben
unverändert bestehen und treten in den Vordergrund. Zur
medikamentösen Behandlung von ADHS-Patienten ab dem 18.
Lebensjahr stand in Deutschland zunächst nur der Wirkstoff
Atomoxetin zur Verfügung. Im April 2011 hat das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) dann erstmals ein
ADHS-Medikament mit dem Wirkstoff Methylphenidat auch für die
Behandlung von Erwachsenen zugelassen. Dies bedeutet eine
wesentliche Ausweitung und Verbesserung der
Behandlungsmöglichkeiten.
Quelle
11) Puls JH. Epidemiologie, Symptomatik und
Verlauf, in: Kahl KG et al (Hg.). Praxishandbuch ADHS. Georg Thieme
Verlag. Stuttgart. New York;
2007: 5.
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